Ein Opfer des Amoklaufs erinnert sich

Eingetragen von Rechtsanwalt Roland Weber MBE am 27. Feb 2007 zum Thema Opfervertretung

Was passiert war, verstand Sascha L. (34) erst im Nachhinein: Er wurde unvermittelt angerempelt, spürte einen dumpfen Schmerz und sah eine Frau, die wenige Meter vor ihm schreiend zusammenbrach. Wie Sascha L. war auch sie am 26. Mai vergangenen Jahres Opfer des damals 16 Jahre alten Amokläufers Mike P. geworden. Der Jugendliche muss sich dafür von heute an vor einer Jugendkammer des Landgerichts verantworten. Die Anklage lautet: 37-facher versuchter Mord.

Den Ermittlungen zufolge soll Mike P. auf 16 Frauen und 21 Männer mit dem Messer eingestochen haben. Für mindestens acht Verletzte bestand nach Stichwunden in der Nierengegend, im Bauch oder auch in der Lunge Lebensgefahr. Weitere Anklagepunkte betreffen Köperverletzungen. Mike P. soll, nachdem er das Messer verlor, noch mindestens weitere sechs Passanten mit Schlägen und Tritten attackiert und dabei auch verletzt haben. Darunter eine Frau, die an einer Straßenbahnhaltestelle wartete und durch einen Faustschlag am Auge getroffen worden war.

Großes Menschengedränge
Sascha L. wollte am 26. Mai eigentlich die Eröffnungsfeier am Hauptbahnhof besuchen. Der unter multipler Sklerose leidende Frührentner hatte jedoch vorzeitig den Rückzug angetreten, weil ihm auf dem Weg zum Bahnhof das Gedränge zu groß geworden war. In der Luisenstraße, unmittelbar vor der Marschallbrücke, sah er dann plötzlich, wie ein Mann zu einer Frau lief und ihr “etwas in den Bauch rammte”. Anschließend lief der Messerstecher zu Sascha L., traf ihn an der linken Beckenseite und lief weiter. Sascha L. betastete die getroffene Stelle und betrachtete ungläubig seine blutbeschmierte Hand. “Erst danach”, erinnert er sich, “war mir klar geworden, was überhaupt passiert war.” Ein paar junge Leute - “ich glaube, es waren Medizinstudenten” - leisteten der Frau erste Hilfe. Sascha L. lief, noch immer heftig aus der Stichwunde blutend, zu ihnen.
Ein Rettungswagen wurde alarmiert. Es folgte ein Transport ins nahe gelegene Krankenhaus der Bundeswehr. Dort erlitt der Patient, dessen Blutungen nur mühsam gestoppt werden konnten, wenige Stunden später den zweiten Schock: “Ich lag im Bett, sah Nachrichten bei N-tv, und da berichteten die, dass der Amokläufer auch auf einen Passanten eingestochen hatte, der HIV-positiv war.”

Drei Aidstests in sechs Monaten
Sascha L., der drei Tage im Krankenhaus verbrachte, wurde wie alle anderen verletzten Passanten sofort von Spezialisten des Robert-Koch-Institutes betreut. “Die haben mich schon bei ersten Gesprächen darauf hingewiesen”, sagt er, “dass eine Ansteckungsgefahr unter diesen Umständen sehr gering sei”. Dennoch musste er vorsorglich 30 Tage lang alle zwölf Stunden vier Tabletten schlucken, bekam Impfungen gegen Hepatitis. Drei Mal - sechs Wochen, drei Monate und sechs Monate nach dem Amoklauf - wurde ein Aidstest durchgeführt. Jedes Mal glücklicherweise mit negativem Befund. So soll es auch bei anderen 14 Opfern gewesen sein, die nach dem Angriff auf den HIV-positiven Passanten durch das blutbeschmierte Messer verletzt wurden.
Sascha L. hat gegen Mike P. Nebenklage eingereicht. Der ehemalige Steuerfachangestellte wird aber nur am 6. März, also am Tag seiner Zeugenaussage, vor Gericht erscheinen. Ansonsten lässt er sich von seinem Anwalt Roland Weber vertreten. “Mich interessiert vor allem das Motiv und was nun aus so einem Menschen wird”.

Nachwirkungen der Messerattacke spürt Sascha L. nicht. Er ist es gewohnt, mit Problemen fertig zu werden. Nicht zuletzt seiner unheilbaren Krankheit wegen. Geärgert hatte ihn die anschließende Diskussion, ob so ein Amoklauf hätte verhindert werden müssen: “Das ist doch Blödsinn”, sagt er, “hundertprozentige Sicherheit gibt nicht!”

Dienstag, 27. Februar 2007 04:00 - Von Michael Mielke


Beitrag erschienen in: Berliner Morgenpost

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