Mordprozeß - nach elfeinhalb Jahren

Eingetragen von Rechtsanwalt Roland Weber MBE am 17. Jul 2006 zum Thema Opfervertretung

1994 ist in einem Kellerverschlag in Wedding die Leiche der 17 Jahre alten Kirstin S. gefunden worden. Gegen den Mann, der sie tötete, wird voraussichtlich am Mittwoch das Urteil gefällt.

Der ältere Herr auf der Bank der Nebenklage hat Mühe, seine Erregung zu verbergen. Es werden Protokolle verlesen im Saal 217 des Moabiter Kriminalgerichts. Und der 74 Jahre alte Kurt S. kann sich plötzlich wieder ganz genau an diese grauenvollen Tage im Januar 1994 erinnern. Seine 17 Jahre alte Tochter Kirstin war schon seit Tagen verschwunden. Und dann kamen diese Anrufe, geführt ganz offensichtlich von ihrem Freund Aydin Y. Er hatte gedroht: “Kirstin wird nie wieder nach Hause kommen.”
Alle Hoffnungen waren vergebens: Am 2. Februar wurde Kirstins Leiche in Wedding in einem Verschlag gefunden. Wieder hatte es vorher einen Anruf gegeben: “Du Polizei anrufen. Sprengelstraße 40. Sie ist im Keller.”

Telefongespräche abgehört
Aydin Y. konnte erst elfeinhalb Jahre später festgenommen werden. Er war in der Türkei untergetaucht. An der Rezeption eines Hotels im Ferienort Alanya hatte er eine Kindergärtnerin aus München kennengelernt, mit der er später ständig telefonierte. Da wußten die Zielfahnder schon, wo er sich aufhielt. Bei einem dieser abgehörten Gespräche drohte er der Frau, er werde sie genauso töten “wie ich die Kirstin in Berlin umgebracht habe” - das ist nun wichtiger Bestandteil der Anklage. Bei einem anderen kündigte er seine Ankunft auf dem Flughafen in München an - das ermöglichte im September vergangenen Jahres seine Festnahme.
In dem seit Anfang Juni laufenden Schwurgerichtsprozeß hatte Aydin Y. erklärt, Kirstin S. am 12. Januar 1994 zufällig getroffen zu haben. Beide waren schon seit Monaten ein Paar. Sie seien dann durch die Gegend gezogen und hätten immer wieder mal Bier getrunken. Gegen Mittag sei die Idee gereift, gemeinsam in den Keller seines ehemaligen Wohnhauses in der Sprengelstraße 40 zu gehen und dort miteinander zu schlafen. Schon das halten Kurt S. und sein Anwalt Roland Weber für eine Lüge. Im Blut des toten Mädchens befand sich kaum Alkohol. Auch hatten Zeugen übereinstimmend berichtet, daß sich Kirstin S. von dem gewalttätigen Mann habe trennen wollen. Bekannt wurde später ebenso, daß Aydin Y. das sich sträubende Mädchen unter dem Vorwand, er wolle sich mit ihr aussprechen, zu dem Treffen überredet hatte.

Zweifel an Notwehrtheorie
Mindestens genauso fragwürdig ist nach Meinung von Kurt S., wie seine Tochter ums Leben gekommen sein soll. Nach Aydin Y.s Beschreibung soll es eine Art Notwehr gewesen sein: Er habe das Mädchen zunächst beschimpft, weil es am Hals einen Knutschfleck von einem anderen hatte. Dann habe er sich vor Kirstin auf den Boden gehockt, um einen Joint zu drehen. Diese Gelegenheit habe Kirstin ausgenutzt, um ihm urplötzlich ein Messer in den Rücken zu stechen. Tatsächlich hatte ein Arzt in der Türkei nach Aydin Y.s Flucht Stichwunden in dem Rücken des jungen Mannes festgestellt. “Ob sie tatsächlich von Kirstin stammen, halte ich jedoch für keineswegs erwiesen”, sagt Anwalt Weber. “Absolut unglaubwürdig” sei die Notwehrtheorie, aber vor allem aus anderen Gründen: So habe Aydin Y. das Mädchen nach eigener Aussage nach der vermeintlichen Messerattacke mindestens 40 bis 60 Sekunden gewürgt. “Gleichzeitig”, so Weber, “wollte er offenbar mit einer dritten Hand einen weiteren Messerangriff abgewehrt haben.” Noch entlarvender, meint Anwalt Weber, seien jedoch “drei Messerstiche im Hals des Mädchens.” Sie waren Kirstin einem medizinischen Gutachten zufolge beigebracht worden, als sie wegen des Würgens schon fast leblos war. Aydin Y. selbst habe dazu merkwürdigerweise nichts sagen können, weil er sich angeblich nicht erinnern könne.

Ständige Drohungen
Kurt S. war nach dem Tod der Tochter mit seiner Familie nach Kanada zu Verwandten gezogen. “Wir waren wegen der ständigen Drohungen des Täters, der noch immer nicht gefaßt war, völlig verunsichert”, erinnert er sich. Kurt S. Ehefrau starb wenig später an Krebs. Sie habe “den Tod von Kirstin nie verwunden”, sagt er. Aber auch der alte Mann hat noch immer riesige Probleme. Das wird deutlich, als im Gerichtsflur zaghaft eine junge Türkin auf ihn zukommt und ihm einen Fächer überreichen will. “Den habe ich noch von Kirstin”, sagt sie. Er dreht sich weg, schüttelt den Kopf, bricht in Tränen aus. Auch die junge Frau beginnt zu weinen. Sie ist eine Nichte von Aydin Y. “Wir sind nicht alle so”, beteuert sie. “Aber das weiß ich doch”, sagt Kurt S., “das weiß ich doch.”


Montag, 17. Juli 2006 04:00 - Von Michael Mielke


Beitrag erschienen in: Berliner Morgenpost

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