Sieben Jahre Haft für Amoklauf

Eingetragen von Rechtsanwalt Roland Weber MBE am 27. Mar 2007 zum Thema Opfervertretung

Mike P. habe sich die Urteilsverkündung scheinbar reglos angehört, hieß es nach dem Prozess. So, wie er schon in den sechs Prozesstagen zuvor im Saal 817 des Moabiter Kriminalgerichts gesessen habe. Was nicht bedeuten muss, dass er keine Einsicht zeigt: Er nahm die Strafe nach der Urteilsverkündung sofort an. Die 7. Große Strafkammer des Landgerichts Berlin verhängte gegen den inzwischen 17-Jährigen sieben Jahre Jugendhaft wegen versuchten Totschlages in 33 Fällen. Damit blieb sie nur knapp unter dem Antrag der Staatsanwaltschaft, die siebeneinhalb Jahre gefordert hatte.

P. hatte am 26. Mai vergangenen Jahres nach der feierlichen Eröffnung des Hauptbahnhofs im Regierungsviertel mit einem Klappmesser wahllos auf Passanten eingestochen. Acht Opfer schwebten in Lebensgefahr. Einige leiden noch heute unter den Folgen dieses Angriffs. Andere kämpften monatelang mit der Angst, sich angesteckt zu haben. Denn ein Tag nach dem Amoklauf war bekannt geworden, dass ein mit dem blutigen Messer getroffenes Opfer mit dem HI-Virus infiziert war.

Motiv ungeklärt
Das Motiv, resümierte die Vorsitzende Richterin Gabriele Eschenhagen in dem unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführten Verfahren, habe auch nach der Vernehmung von mehr als 60 Zeugen nicht konkret geklärt werden können. Der Angeklagte hatte ausgesagt, er könne sich an den Amoklauf nicht mehr erinnern. Das Gericht gehe davon aus, dass Mike P. in einer Art Machtrausch gehandelt habe. Der Jugendliche sei ein Schulversager - zweimal sitzen geblieben, am Ende von der Schule geschmissen. Resultat sei ein mangelndes Selbstwertgefühl, das der zur Tatzeit stark angetrunkene Mike P. vermutlich zu kompensieren versucht habe. Er habe sich an jenem 26. Mai entschlossen, “als Herr über Leben und Tod zu agieren” und eine “Blutbahn” hinter sich hergezogen, wurde die Richterin von Gerichtssprecherin Iris Berger zitiert.

In der Anklage war noch von versuchtem Mord ausgegangen worden. Über diesen Punkt, sagte Richterin Eschenhagen, habe die Jugendkammer intensiv diskutiert. Die Kammer sei schließlich dem Gutachten des forensischen Psychiaters Hans-Ludwig Kröber gefolgt. Der Chef des Instituts für forensische Psychiatrie der Charité war davon ausgegangen, dass Mike P. wegen des zuvor reichlich genossenen Alkohols subjektiv nicht in der Lage gewesen sei, heimtückisch zu handeln und die Arglosigkeit der feiernden Menschen bewusst und zielgerichtet auszunutzen. Mike P. habe nicht töten wollen, resümierte die Kammer, ihm sei der mögliche Tod von Menschen in diesem Augenblick jedoch gleichgültig gewesen.

Aggressiv durch Alkohol
Wegen des Alkohols -Mike B. hatte nach seiner Festnahme mehr als zwei Promille Blutalkohol - wurde dem Jugendlichen eine verminderte Steuerungsfähigkeit zugebilligt. Das führte jedoch nicht zu einer gemilderten Strafe. Die Jugendkammer bezog sich dabei auf neuere Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, nach der auch die Folgen von Alkoholeinfluss sehr differenziert bewertet werden müssen. Zeugen berichteten, dass Mike P. schon vorher oft getrunken und in diesem Zustand verbal und auch körperlich aggressiv aufgetreten sei. Nach Meinung der Jugendkammer hätte er aufgrund dieser früheren Vorfälle wissen müssen, dass er unter Alkoholeinfluss gewalttätig werde.
Mike P.s Verteidiger Herbert Hedrich sagte nach der Urteilsverkündung, dass sich sein Mandant bei den Opfern und ihren Angehörigen noch einmal in aller Form entschuldigt habe. Dies werde auch durch die Anerkennung des Urteils durch den Jugendlichen und seine Eltern zum Ausdruck gebracht. “Die 25 Minuten der Tat werden sein ganzes zukünftiges Leben prägen”, sagte Hedrich. Sein Mandant wolle in der Jugendhaft den Hauptabschulabschluss anstreben und anschließend eine Lehrausbildung absolvieren. Dann sei es auch möglich, dass der junge Mann entlassen werden könne, wenn er zwei Drittel seiner Strafe abgesessen habe.

Das Verfahren sei für seinen Mandanten auch mit der sofort erfolgten Rechtskraft des Urteils noch nicht beendet. Es gebe schon eine Reihe von Anträgen auf Schmerzensgeld und Schadensersatz. Hedrich sprach von einer “Zwischensumme von rund 200 000 Euro”.
Die Verjährungsfrist für derartige Ansprüche laufe jedoch drei Jahre, und es sei mit weiteren Forderungen zu rechnen.
Die Tat nur verdrängt

Rechtsanwalt Roland Weber, dessen Kanzlei drei Opfer des Amoklaufes vor Gericht als Nebenkläger vertrat, zeigte sich nach der Urteilsverkündung besorgt, dass der Jugendliche die Tat ganz offenbar noch immer nicht verarbeitet habe. Gutachter Kröber sei davon ausgegangen, dass ein totaler Filmriss kaum wahrscheinlich sei und der Angeklagte die Tat vermutlich nur verdränge. Der Psychiater hatte nicht ausschließen können, dass Mike P. noch einmal Amok laufen werde.
“Was geschieht, wenn er wieder auf freiem Fuß ist?”, sagte Weber. Es sei dringend nötig, dass Mike P. in der Jugendstrafanstalt psychologisch betreut werde und sich mit der Tat, “so unangenehm es für ihn auch sein mag”, zwingend auseinandersetze. “Ansonsten ist er eine große Gefahr!”

Samstag, 24. März 2007 04:00 - Von Michael Mielke


Beitrag erschienen in: Berliner Morgenpost

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