Stumm vor Entsetzen

Eingetragen von Rechtsanwalt Roland Weber MBE am 10. Sep 2008 zum Thema Opfervertretung

Erdal W. soll seine Großeltern erstochen haben. Er hat die Trennung von Mutter und Vater nicht verkraftet.

Die Mutter tritt im Prozess gegen den Sohn als Nebenklägerin auf. Zunächst aber nur aus der Ferne. „Sie ist stumm vor Entsetzen“, sagte gestern ihr Anwalt. Erdal W., ihr Ältester, soll ihre Eltern ermordet haben. Es ist das Ende eines monatelangen Familienstreits. Die Ermittler gehen davon aus, dass sich Erdal an der Mutter rächen wollte, weil sie ihn und seinen Vater verlassen hatte.

Erdal, gerade 19 Jahre alt geworden, blieb regungslos, als der Staatsanwalt die Anklage verlas. Er hatte im Januar auf den neuen Freund seiner Mutter eingestochen und war dann untergetaucht. Am 14. März zog er laut Anklage mit einer Wollmaske und einem Messer in der Tasche los, um Claudia W., seine Mutter, zu bestrafen. Gegen 8.40 Uhr soll er in der Druckerkehre in Rudow, wo im Erdgeschoss ihre Eltern wohnten, angekommen sein.

Ob der Täter über den Balkon in die Wohnung gelangte oder klingelte, ist nicht klar. Zunächst soll Erdal auf den 64-jährigen Heribert R. eingestochen haben – mehrfach, wuchtvoll, gezielt in den Oberkörper. Die 74-jährige Ursula R. rief um Hilfe, rannte schreiend auf den Balkon. Da sei der Enkel auch über seine Großmutter hergefallen.

Erdal W., in Steglitz aufgewachsener Sohn einer deutschen Mutter und eines türkischen Vaters, galt bis dahin als unauffällig. Vorstrafen hat er nicht. Eine Ausbildung habe er nicht begonnen, sagte er im Prozess. Als sich seine Mutter im Sommer 2007 nach 21 Jahren von Sahin Ö., seinem Vater, trennte, hielt er zunächst zu Claudia W. Doch Ende des Jahres wechselte er die Fronten und verteidigte plötzlich den Vater, zu dem er bis dahin ein gespanntes Verhältnis hatte. Dieser soll seinen Sohn oft wegen seines Übergewichts verspottet haben.

Am 8. Januar tauchten Vater und Sohn bei Claudia W. auf, die zu ihrem neuen Freund gezogen war. Sie wollten die vierfache Mutter zurückholen. Im Streit griff Erdal zu einer zwölf Kilogramm schweren Hantel und schlug auf den Rivalen des Vaters ein. Sahin Ö. soll den Mann dann festgehalten und den Sohn aufgefordert haben, in den Bauch zu stechen. Erdal traf in Hüfte und Bein. Sein Vater soll zudem mit einer Blumenvase zugeschlagen haben. Der 43-jährige Ö. wurde im Juli wegen Körperverletzung zu fünfeinhalb Jahren Haft verurteilt, legte aber Rechtsmittel ein.

Nach dem Tod des Rentnerpaares vermuteten die Ermittler schnell einen familiären Hintergrund. Erdal soll in Vernehmungen die Tötung gestanden haben. Angeblich wollte er die Großeltern, die die Trennung ihrer Tochter unterstützt haben sollen, auf seine Seite ziehen. Es sei aber zu einem handgreiflichen Streit mit dem Großvater gekommen. Er habe sich gewehrt, soll der Enkel erklärt haben.

Ein Nebenkläger schloss gestern nicht aus, dass Erdal zu einem Ehrenmord aufgehetzt worden ist. Ermittlungen gegen Erdals Vater wegen Anstiftung brachten jedoch keine Hinweise. Nebenklage-Anwalt Roland Weber hält es für nahe liegender, dass der Enkel zu den Großeltern ging, um sie umzustimmen. Er hatte bis dahin ein sehr gutes Verhältnis zu ihnen. „Sie liebten ihn, gaben ihm Taschengeld, standen mit Rat und Tat zur Seite.“ Am Dienstag will sich Erdal W. möglicherweise zu den Vorwürfen äußern.

Von Kerstin Gehrke, 10.9.2008 0:00 Uhr
(Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 10.09.2008)


Beitrag erschienen in: Der Tagesspiegel

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