“Der Junge hatte keine Chance”

Eingetragen von Rechtsanwalt Roland Weber MBE am 17. Jun 2009 zum Thema Opfervertretung

Heute wird im Saal B 129 des Moabiter Kriminalgerichts voraussichtlich das Urteil gegen den Mann gesprochen werden, der für seinen Tod verantwortlich sein soll.

Aytac G. ist angeklagt wegen Körperverletzung mit Todesfolge. Er hat vor Gericht gestanden, am 27. Februar 2007 in seiner Kneipe “Eye.T” mit Lukas W. ein fatales Wetttrinken veranstaltet zu haben. Dabei hatte der 28-jährige Wirt auch noch geschummelt und sich von einem Helfer mehrfach statt Tequila Wasser ins Glas gießen lassen. Sein Gegner trank in der gleichen Zeit etwa 50 Gläschen des hochprozentigen Getränkes. Lukas W., Schüler einer neunten Klasse des Zehlendorfer Dreilinden-Gymnasiums, hatte am Ende 4,4 Promille Alkohol im Blut. Er fiel ins Koma und starb einen Monat später an den Folgen des Wetttrinkens im Krankenhaus.

Der Tod des Gymnasiasten löste eine bundesweite Debatte über exzessiven Alkoholkonsum von Jugendlichen aus. In Berlin organisieren Jugendämter, Ordnungsämter und Polizei inzwischen gemeinsame Streifen und kontrollieren konsequenter Gaststätten und Diskotheken. Auch die Prävention in Schulen und Jugendklubs wurde verstärkt. Das Interesse für dieses Thema habe nach dem schrecklichen Schicksal von Lukas W. bei Lehrern, Sozialpädagogen, Trainern und sogar Medizinern zugenommen, sagt Kerstin Jüngling, Leiterin der Fachstelle für Suchtprävention des Landes Berlin. “Für viele ist dadurch dieses Problem erst zum Problem geworden.” Die Nachfrage in ihrer Beratungsstelle sei stark gestiegen. Die Berliner SPD-Gesundheitspolitikerin Sandra Scheeres plädiert dafür, dass “der Kampf gegen Alkoholmissbrauch schon in der Familie beginnen” müsse. “Den jungen Leuten muss klar gemacht werden, dass Betrunkensein uncool ist.”

Alkoholopfer seit 2007 verdoppelt
Das zu vermitteln, ist bei vielen jungen Leuten bislang noch nicht gelungen. Vor allem das Trinken bis zur Besinnungslosigkeit ist bei Kindern und Jugendlichen trendy. Steigende Zahlen belegen das. Im Jahr 2007 wurden in Berlin von der Polizei und Mitarbeitern der Ordnungsämter von Mitte April - da begann die statistische Erfassung - bis Dezember 663 stark betrunkene Kinder und Jugendliche aufgegriffen; im Jahr 2008 waren es 1209; und im Jahr 2009 wurden allein bis April 637 gezählt. Damit hat sich die Zahl seit 2007 mehr als verdoppelt.
Immer wieder auch gibt es in den Medien Berichte über Kinder und Jugendliche, die volltrunken aufgefunden werden. Am letzten Sonnabend - es war der erste Tag der “Aktionswoche Alkohol” - wurde in Oberschöneweide ein zwölfjähriges Mädchen mit 1,2 Promille Alkohol in einem Treppenhaus entdeckt. Das Kind musste ins Krankenhaus gebracht werden. Am selben Tag wurde ein 15-Jähriger in Charlottenburg notversorgt. Er hatte 2,45 Promille Alkohol im Blut. Freunde des Jugendlichen berichteten, dass er eine ganze Flasche Wodka getrunken habe.

Bei diesen Meldungen schließt sich der Kreis zu dem Strafprozess in Berlin. Er ist ein Novum. Noch nie stand in der Bundesrepublik ein Wirt vor Gericht, der mit einem Jugendlichen ein Wetttrinken veranstaltete - in diesem Fall sogar mit tödlichem Ausgang. Und es ist zu erwarten, dass im Plädoyer des Staatsanwaltes Reinhard Albers das von Angeklagten und Verteidigern nur ungern zur Kenntnis genommene Wort “Generalprävention” fallen wird. Was bedeutet: Alkoholmissbrauch unter Kindern und Jugendlichen ist ein relevantes Problem. Es muss hier auch hart bestraft werden, um andere Gastwirte und Kioskbesitzer von einer Nachahmung abzuschrecken.
Aytac G. hat für diese Einschätzung einige Argumente geliefert. Seine in Charlottenburg gelegene Kneipe “Eye.T” wurde im April 2007 vom Bezirksamt Charlottenburg-Wilmersdorf “wegen fortwährend begangener grober Verstöße gegen das Jugendschutzgesetz” geschlossen. Der Wirt hatte Zeugenaussagen zufolge auch nach dem Tod des Lukas W. unbeirrt alkoholische Getränke an Jugendliche ausgeschenkt. Auch sonst zeigte der Aytac G. - zumindest anfangs - wenig Unrechtsbewusstsein, lud sogar Journalisten in seine Kneipe, um den ordnungsgemäßen Ausschank zu demonstrieren, beteuerte immer wieder seine Unschuld und benannte dafür sogar Zeugen.
Später stellte sich heraus, dass er junge Leute, die bei dem Wetttrinken anwesend waren, zu falschen Aussagen überredete. Es gab Treffen, bei denen unter seiner Leitung detailliert abgesprochen wurde, was zu dem Geschehen im “Eye.T” gesagt werden soll. Die Jugendlichen hielten sich auch daran, machten bei der Polizei reihenweise falsche Aussagen. Diese Mauer begann erst zu bröckeln, als einige den Fragen der Kriminalisten nicht mehr standhielten. Und es bestätigte sich der Vorwurf: Alkoholausschank an Jugendliche war im “Eye. T” üblich und vermutlich sogar eine Geschäftsidee. Für viele Jugendliche, darunter nicht wenige 14- und 15-Jährige, war das auch der einzige Grund, sich ausgerechnet in jener Kneipe mit Altersgefährten zu treffen. Dafür nahmen sie sogar weite Anfahrwege in Kauf.

Mutter brachte Tochter zur Kneipe
Und noch eines wurde in diesem Prozess deutlich: Nicht wenige Eltern wussten, dass sich ihre Sprösslinge in diesem dubiosen Lokal zum feuchtfröhlichen Feiern trafen. Eine 16-Jährige wurde von ihrer Mutter sogar hingebracht und wieder abgeholt. Dabei wartete die Mutter mit dem Auto in einer Nebenstraße, damit die Altersgefährten diesen peinlichen Vorgang nicht bemerkten. Dass die Tochter “auch etwas getrunken hatte”, habe sie schon gerochen, bestätigte die Frau vor Gericht. “Aber es war ja nicht sehr viel”, und sie habe die Tochter anschließend ja auch sofort unter ihre Fittiche genommen. Unter dem fragwürdigen Motto: Besser zähneknirschend auf diese Art den Nachwuchs im Auge behalten, als gar keine Kontrolle mehr zu haben.
Staatsanwalt Albers, daraus hat er in der seit Februar laufenden Verhandlung keinen Hehl gemacht, strebt weiterhin eine Verurteilung des Wirtes wegen Körperverletzung mit Todesfolge an. Der Strafrahmen beginnt hier bei drei Jahren Haft. Albers wird vermutlich eine höhere Strafe beantragen. Die Verteidigung, auch das war immer wieder herauszuhören, zielt mit hoher Wahrscheinlichkeit auf eine Bewährungsstrafe. Und sie wird diesen Antrag vermutlich damit begründen, dass es sich nur um Körperverletzung handelt: Aytac G. habe nicht vorhersehen können, dass Lukas W. wegen des beim Wetttrinken reichlich genossenen Alkohols sterben könnte. Er sei im guten Glauben davon ausgegangen, dass die Sache für den Jungen lediglich mit einem Rausch enden würde. Folgerichtig habe er gar nicht bewusst fahrlässig handeln können. Und so handele es sich dann auch nicht um Körperverletzung mit Todesfolge.

Zu dieser Theorie passt dann auch nahtlos eine Erklärung, die Aytac G. am 27. Mai vor Gericht abgab: “Die massive Gefährlichkeit meines Tuns”, heißt es da sehr deutlich, “ist mir erst mit dem Schicksal von Lukas W. klar geworden. Mein eigenes Versagen werfe ich mir bis heute vor und ist wesentlicher Grund dafür, warum ich nie wieder etwas mit dem Ausschank von Alkohol zu tun haben wollte und eine völlig andere Perspektive suche.”
Neuer Job in einem Callcenter
Rechtsanwalt Roland Weber, der den Vater von Lukas W. vor Gericht als Nebenkläger vertritt, kann “diesen Worten nicht so recht folgen”. Aytac G. sei ein intelligenter Mann, sagt er. Der Angeklagte sei in Berlin geboren, hier auch aufgewachsen, habe eine kaufmännische Ausbildung erfolgreich abgeschlossen, nebenher als Jugendtrainer gearbeitet; und er sei nach eigener Auskunft auch in seinem neuen Job in einem Callcenter erfolgreich. “Es ist lebensfremd”, so Weber, “dass dieser Mann nicht gewusst haben will, dass übermäßiger Alkoholkonsum tödlich enden kann.” Und eines sollte man sich bei diesem Fall immer wieder in Erinnerung rufen: “Der Täter war ein erwachsener Mann. Das Opfer war 16, unreif, getrieben von der Dynamik des dubiosen Wettbewerbs. Der Junge hatte im ,Eye.T’ gar keine Chance, sein Limit zu erkennen.”

“Den jungen Leuten muss klar gemacht werden, dass Betrunkensein uncool ist” SPD-Politikerin Sandra Scheeres

Mittwoch, 17. Juni 2009 04:00 - Von Michael Mielke


Beitrag erschienen in: Berliner Morgenpost

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