Schlechte Noten führten zum Mord an Lehrerin

Eingetragen von Rechtsanwalt Roland Weber MBE am 15. Nov 2006 zum Thema Opfervertretung

Isolde F. ist eine Pädagogin der alten Schule, streng und zuweilen unerbittlich. Bei ihrem Schüler Axel O. stößt sie damit auf massive Gegenwehr. Dann eskaliert die Situation, es kommt zum Mord. Nun wird die Tat zum zweiten Mal vor dem Landgericht Lübeck verhandelt.
Annette E. betritt den Verhandlungssaal im Landgericht Lübeck mit einem Gesichtsausdruck, als müsse sie dem Tod gleich noch einmal begegnen. Die 41-Jährige atmet schwer, versucht den Blick zum Richtertisch, auf dem sich Ordner mit Fotos stapeln, zu vermeiden.

Sie weiß, dass nun alles wieder zur Sprache kommt: Dieser Morgen des 17. Januar 2005, als sie von einer Nachbarin darauf angesprochen wurde, dass nebenan noch immer Licht brenne und es am Abend zuvor doch so ein merkwürdiges lautes Geräusch gegeben habe. Dieser erste Blick in die Wohnung, als sie Tür öffneten und zuerst nur die Füße sahen und dann den in einer Blutlache liegenden, mit Jacken überdeckten Körper der 55-jährigen Isolde F.

Es war eine Tat, wie sich später herausstellen sollte, die aus einer stetig wachsenden Unversöhnlichkeit zwischen einem Schüler und einer Lehrerin resultierte. Ein Konflikt, den viele beobachteten und kommentierten, den aber keiner als wirklich gefährlich begriff.

Isolde F. wurde mehrfach mit einem Schlagring malträtiert, anschließend mit mehreren wuchtigen Messerstichen getötet und ihr Kopf fast abgetrennt. Der Verdacht fiel damals schnell auf Alex O. Der 18-Jährige war im Schulzentrum „Am Heimgarten“ in Ahrensburg mit Lehrerin Isolde F. mehrfach aneinander geraten. Alex O. kam 1996 mit seinen Eltern Leonid und Valentina und den Brüdern Vitali und Johannes aus Kasachstan nach Deutschland. Er war zehn Jahre alt, konnte kein Wort deutsch.

Es gibt viele Vorurteile und klischeehafte Vorstellungen über Russlanddeutsche und ihre Probleme bei der Integration. Begünstigt sicher auch durch die vergleichsweise hohe Zahl an Straftaten, die von jungen Aussiedlern begangen werden. Doch Familie O. lässt sich hier nicht einreihen. Eltern und Kinder lernten ehrgeizig die neue Heimatsprache.

Vater Leonid O. arbeitete zunächst für eine Straßenbaufirma. Später fand er einen Job als Gärtner auf einem Golfplatz. Mutter Valentina O. putzte in einem Altenheim und kümmerte sich um die Erziehung der Jungen. Sehr konsequent, wie Zeugen berichten, und sehr kooperativ bei der Zusammenarbeit mit Lehrern.

„Die Familie O. war in dieser Beziehung eine richtige Vorzeigefamilie“, schwärmt die Sozialpädagogin Dagmar K. vor Gericht. Die 57-Jährige war im Schulzentrum für Alex O. eine Bezugsperson. Bei ihr konnte er Probleme beichten. Ihre Kritik nahm er an. Sie beschaffte ihm sogar einen Nebenjob: Alex O., der in Mathematik und Physik gute Leistungen erzielte, gab jüngeren Schülern Nachhilfeunterricht. „Einfühlsam und mit großer Geduld“, erinnert sich Dagmar K., „er mochte die Kinder und sie mochten ihn“. Große Probleme hatte Alex O. jedoch mit dem Fach Deutsch. Und das unterrichtete Klassenlehrerin Isolde F.

Die Pädagogin war Mitte der 80er Jahre aus Ostberlin in die Bundesrepublik gekommen. Hinter ihr lag eine schwere Zeit mit Ausreiseantrag, einem dreijährigen Berufsverbot und den üblichen Schikanen gegen „Verräter der DDR“. Ihre Ehe, der Mann war mit ausgereist, wurde später geschieden. Sie selbst blieb in Ahrensburg, wo sie wieder als Lehrerin arbeiten konnte.

Realschulrektor Karl-Heinz B., der viele Jahre ihr Vorgesetzter war, ist noch heute voll des Lobes: Isolde F. sei eine gewissenhaft, engagierte, korrekte Lehrerin gewesen. Mitschüler des Angeklagten sehen das zwar aus einer anderen Perspektive, aber keineswegs grundlegend anders. „Sie war eine Lehrerin der alten Schule“, sagte ein 18-Jähriger. „Wenn man pünktlich zum Unterricht erschien und die Überschrift beim Aufsatz wie gewünscht unterstrich, war man bei ihr auf dem richtigen Weg.“

Und immer wieder gab es diese Einschätzung: „Sie war streng, aber gerecht.“ Alex O. hat es nicht so empfunden. Er kam im Sommer 2003 zur Realschule im Schulzentrum „Am Heimgarten“. Hinter ihm lag der gescheiterte Versuch, auf dem Gymnasium die Hochschulreife zu erreichen. Vielleicht hat er diesen Abstieg nie so recht verkraftet. Vielleicht hat er auch deswegen den Unterricht auf der Realschule zeitweise nicht mehr so richtig ernst genommen. Er verpasste die eine oder andere Unterrichtsstunde, vergaß zuweilen Hausaufgaben, bereitete sich manchmal nur unzulänglich auf den Unterricht vor. Schlampereien, die Isolde F. nicht duldete.

Alex habe sich nicht klug verhalten, sagte vor Gericht ein Mitschüler. „Er hatte jedes Mal Widerworte.“ Und er habe sich die Forderungen der Lehrerin zwar ganz genau angehört, „sie aber nicht umgesetzt“. Erschwerend kam hinzu, dass es in dieser Schule bewusst konsequent auf vermeidbare Fehlleistungen reagiert wurde. Beschlossen wurde das 2003 auf einer Schulkonferenz durch ein mit Eltern, Lehrern und Schülern besetztes Gremium. Fortan gab es für vergessene Hausaufgaben, das Stören im Unterricht oder für Zuspätkommen jedes Mal eine „Sechs“. Die einen nannten das „besonderen Erziehungsmaßnahmen“, andere „Strafkatalog“.

Alex O. bekam von Lehrerin Isolde F. viele „Sechsen“. Der Konflikt war bekannt. Alex O. beschwerte sich, bei anderen Lehrern, beim Rektor, bei Mitschülern. Sozialpädagogin Dagmar K .hatte er sogar zweimal überredet, sich für ihn bei Isolde F. einzusetzen. Was diese dann auch tat. „Ich wollte dem Jungen doch helfen“, sagte sie. „Alex war doch bemüht. Wir hatten an unserer Schule ganz andere Schüler, die wirklich problematisch waren.“ Der Auseinandersetzung spitzte sich zu, als Alex O. für einen Aufsatz nur die Note „mangelhaft“ bekam. Er habe sich nicht auf das eigentliche Thema konzentriert, hieß es in der Begründung, zudem gebe es 69 Rechtschreibfehler. Er insistierte. Isolde F. gab nicht nach. Er fertigte daraufhin keine Berichtigung an – und bekam eine „Sechs“. Er wurde an vier folgenden Tagen aufgefordert, die Berichtigung vorzulegen, verweigerte das – und bekam jedes Mal eine weitere „Sechs“.

Kurz darauf folgte noch einmal eine Steigerung: Alex O. vergaß für eine Klausur seine Textvorlage. Er musste die Klasse verlassen und bekam eine „Sechs“. Vor Tür fand er die Vorlage, wollte zurück in die Klasse Isolde F. nahm die „Sechs“ jedoch nicht zurück. Alex O. soll damals zu Mitschülern gesagt haben: „Ich bringe sie um!“ Aber auch diese Drohung hatte niemanden aufgeschreckt. Ebenso wenig Alex’ Angst, wegen der schlechten Deutschnote die erträumte Ausbildung zum Gerätemechaniker bei der Bundeswehr nicht zu bekommen. Was nicht der Realität entsprach. Lehrer sagten vor Gericht aus, dass er die „Fünf“ in Deutsch durch seine guten Noten in anderen Fächern hätte kompensieren können.

Am Abend des 16. Januar 2005 suchte Alex O. gemeinsam mit seinem zwei Jahre älteren Bruder Vitali die Lehrerin in ihrer Wohnung auf. Vitali, der eine Koch-Lehre absolvierte, trug unter der Jacke ein großes Fleischermesser. Angeblich, weil er damit die Lehrerin nur einschüchtern und dazu bewegen wollen, Alex künftig bessere Zensuren zu geben. Was dann folgte, wissen nur die Brüder. Alex schwieg bislang beharrlich. Vitali sagte, es solle zu einem Wortwechsel gekommen sein. „Du bist ein Verlierer! Das mit der Bundeswehr kannst du vergessen!“, soll die schmächtige, von zwei zornigen jungen Männern bedrohte Frau angeblich gespottet haben. Daraufhin habe ihr Vitali zunächst mit einem Schlagring mehrere Fausthiebe versetzt und anschließend auf sie eingestochen. Alex habe angeblich nur passiv daneben gestanden. Unfähig einzugreifen. Vor Schreck wie erstarrt.

Im Oktober 2005 verurteilte eine Jugendkammer des Landgerichts Lübeck Vitali O. wegen Mordes zu einer Jugendstrafe von acht Jahren und neun Monaten. Alex O. kam wegen gefährlicher Körperverletzung mit einer Jugendstrafe von drei Jahren und zehn Monaten davon. Das Gericht begründete das damit, dass er zumindest an der Körperverletzung beteiligt war.

Die Staatsanwaltschaft und Nebenklagevertreter Roland Weber – er vertritt den Sohn der Ermordeten beantragten Revision. Es sei nicht nachvollziehbar, so Weber, dass Alex O. nicht zumindest hätte versuchen können, den Bruder von dem Gewaltexzess mit dem Fleischermesser abzuhalten. Der Bundesgerichtshof folgte diesen Anträgen im Juni 2006. Mit dem Hinweis an das Landgericht, noch einmal genau die Tatbeteiligung des Schülers zu prüfen. Ebenso, ob es nicht doch einen gemeinsamen Tatplan gegeben habe. Im zweiten Prozess wird die Strafe nun weitaus höher ausfallen.

Alex O. weiß, was auf ihn zukommt. Er ist blass, wirkt verängstigt. Er war fast angekommen in diesem Land. Als er an jenem Sonntag gegen 22.15 Uhr bei Isolde F. klingelte, hatte er an der Gegensprechanlage gesagt, dass er Hilfe brauche. Und sie hatte auch sofort ihre Tür geöffnet. Aber da war es schon zu spät.

15. November 2006, 00:00 Uhr, von Michael Mielke


Beitrag erschienen in: Welt Online

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